Ich bin kein Journalist, wollte nie einer sein. Das verhindert aber nicht, dass ich einen tendenziösen Bericht also solchen erkenne und auch sehe, wenn er eher auf Sand als auf harten Fakten gebaut ist.
Ich bestreite nicht, dass an den Vorwürfen etwas dran sein könnte. Das Problem ist, dass der Bericht keine gute journalistische Arbeit leistet, dies auch zu belegen. Ausgehend von einem Diskussionsthread bei Spiegel Online habe ich mir also diesen Bericht mal angeguckt und quasi live kommentiert:
1) Er fängt schon “ausgewogen” an: Dunkel gefilmt, mit düsterer Stimme.
2) In dem Bus, der die Leute vom Feriendorf zu Amazon bringt gibt es auch Stehplätze, Fahrzeit 45 min. Ich wette, sowas ist einem Berliner mit der S-Bahn noch nie passiert.
3) Die Unterkünfte der Arbeiter sind bis zu 30 km entfernt. Nein, da hat doch Amazon für Saisonarbeiter vorhandene Übernachtungsmöglichkeiten angemietet und keine eigene Wohnhaussiedlung direkt neben dem Lager gebaut!
4) Die Arbeiter werden von Frauen der Firma “Coco” zu ihren Zimmern gebracht. Also doch nicht nur Thor Steinar Nazis…
5) Silvina (aus Spanien) schläft lieber auf der Couch, weil sie da mehr Ruhe als im Doppel(!)zimmer hat.
6) Überall Zettel für die Arbeiter: Verhaltensregeln, Einkaufszeiten, Essenszeiten. Wahnsinn. Als ob man das nicht auch in jedem Ballermann-Hotel finden würde. Gerade Einkaufszeiten sind für Ausländer, die nicht das deutsche Ladenschlussgesetz gewohnt sind, wahrscheinlich ganz praktisch. Aber was weiß ich schon.
BTW: Ich bin jetzt bei Minute 4:40 von 29:07
6a) Die Verhaltensregeln (kurz eingeblendet): Tische sauberhalten, Geschirr wegräumen und andere unmenschliche Forderungen
7) Die Security wird durch ein Fenster gefilmt, wie zwei Typen an nem Stehtisch stehen und quatschen
8) Ein heruntergekommenes Motel wird auch für Wanderarbeiter benutzt. Tja, da waren die nur halbbenutzten Doppelzimmer (siehe 5) in den Ferienanlagen wohl schon alle voll.
Wenn nicht gerade Wintermonate sind, scheint das Motel für normal zahlende Touristen aber wohl noch gut genug zu sein.
9) Nach den Aussagen der Motelverwalterin scheint sie wohl schon Erfahrung mit osteuropischen Wanderarbeitern gemacht zu haben, aber die Polen nimmt sie gerne.
10) So und jetzt erst mal ne “sob story” wie traurig die Frau ist, an Weihnachten nicht bei ihrer Familie sein zu können. Böses Amazon, zwingst die Frau einfach mal in Arbeit fern der Heimat!
11) 80qm Ferienhaus, 3 Schlafzimmer mit Doppelbetten. Die Zimmer kaum größer als die Betten. Klingt nach so ziemlich jedem Hotel, in dem ich je gewesen bin.
12) Silvina hat sich Blasen gelaufen und als sie es gemeldet hat, sollte sie mal zum Hospital. Unmenschen, diese Amazonier!
13) “Zuerst dachten wir, dass wir direkt bei Amazon angestellt würden. Doch dann bekamen wir eine eMail, dass wir nur über eine Zeitarbeitsagentur eingestellt würden.”
Hier könnte man Amazon tatsächlich eine Hinterfotzigkeit unterstellen, allerdings legt der Bericht zwar die abgeänderten Bedingungen vor, kann aber von dem, was Amazon angeblich ursprünglich angeboten hat, nur Hörensagen vorweisen – Müsste es da nicht auch Dokumente geben, wenn das über die ARGE und dann nach Spanien gegangen ist?
14) Das Weihnachtsgeschäft ist Saisonarbeit. Im Akkord. Die Arbeiter werden nicht ganzjährig angestellt. Es besteht keine Aussicht auf dauerhafte Anstellung. Und ich hab gedacht, dass wäre das typische Merkmal von Saisonarbeit.
14a) Knapp 20% wurden dennoch übernommen. Im Bericht heißt das dann: “nicht mal jeder Fünfte”.
Wir sind bei Minute 12:54 von 29:07 angekommen
15) Der Betriebsseelsorger in Augsburg will einen Betriebsrat wählen. Die Wanderarbeiter winken ab und gehen weiter. Pöses Amazon!
16) Amazon stellt die Busse, die von den Unterkünften zu den Arbeitsstätten fahren. Der Bus fährt aber nur einmal pro Schicht, nicht öfter. Wenn es dann mal Verschiebungen in der Schicht gibt, müssen die Arbeiter auf den Bus warten.
Fragt mich jemand, wie ich nach Hause komme, wenn der letzte Bus zu meinem Ort um 20:03 (ungelogen!) fährt?
17) “Du hast eine Schicht, eine Arbeit und alles ist organisiert.” Da sieht man wieder die Nazis rauskommen, erst haben sie Auschwitz organisiert, jetzt eben bezahlte Schichtarbeit bei Amazon.
Inzwischen sind wir bei Minute 17:54 von 29:07
18) “Es ist verboten, ein Brötchen mitzunehmen”. Das verbittet sich das Hotel an der Algarve auch, dass ich mir am Frühstücksbuffet die Taschen vollhaue, um den Tag über für unterwegs was zu haben.
19) “Die Security ist allgegenwärtig: Am Zigarettenautomaten, in der Lobby, im Speisesaal”. Scheint wohl so zu sein, als ob der Automat schon mehrfach aufgeknackt und geplündert wurde. Auch Fußballmannschaftslunchpakete scheinen wohl schon vorgekommen sein.
19a) “Allein durch ihre Präsenz schüchtern sie ein” Man sollte sich hier immer vor Augen führen, dass hier ein Haufen sich wildfremder Menschen unterschiedlichster Nationalitäten und Befindlichkeiten aufeinander hocken. Ein kleiner Streit kann da sehr schnell eskalieren.
20) Die Security soll Fotos von den Unterkünften gemacht haben – man sieht die Fotos und auf allen siehts aus, wie im Schweinestall. Überall Wäsche wild auf dem Boden, dreckiges Geschirr stapelt sich in der Spüle und auf dem Tisch stehen leere Flaschen Alkohol.
21) Maria wird unter Vorwänden entlassen, weil sie sich über die Unterkünfte beschwert hat. Die Journalisten behaupten nicht einmal, die andere Seite gefragt zu haben, was zu der Entlassung geführt hat. Maria erzählt ihre Seite der Geschichte und weil es in den Tenor der Reportage passt, hat es sich damit.
21) Die Security wird nicht handgreiflich, droht nicht, ist einfach nur da. Und Arbeiter und Journalisten füheln sich bedroht von Typen, die mehr oder minder wie ganz handelsübliche Discotürsteher aussehen.
22) Das Filmteam hat ohne Genehmigung auf dem Hotelgelände gefilmt und wird von der Polizei abtransportiert. Wer ist schuld? Die anderen natürlich.
23) Die Security-Firma hat tatsächlich einen sehr fragwürdigen Mitarbeiterpool. Allerdings gibt es in dem Bericht bis jetzt (23:58 von 29:07) keinen einzigen Bericht von Übergriffen. Nur “die Security steht da halt rum, macht einen auf dicke Eier und setzt das Hausrecht des Hotels durch”.
24) Es wird angedeutet, dass die Leiharbeitsfirma nicht alle Sozialbeiträge für die Angestellten abführt. Ob die Staatsanwaltschaft davon weiß oder ermittelt, wird nicht recheriert.
24a) Vielleicht ist aber doch alles rechtens. Nichts genaues weiß man nicht. Weder der hingezogene Professor für Sozialrecht noch der Gewerkschaftsmann. Aber “glauben” tut letzterer natürlich nicht, dass alles rechtens ist.
24b) Egal ob legal oder illegal, was Amazon macht, ist böse. Punkt.
25) Minute 27:00 von 29:07, die Gerüchteküche brodelt. Wird Amazon befristet eingestellte Leute, die zur Spitzenlastbewältigung eingestellt wurden, entlassen, wenn es keine Spitzenlast (mehr) gibt?
26) Silvina hats leider nicht geschafft.
Film Ende.
Nachtrag vom 21.02.2013: Falsch berichtet: Ex-Amazon-Zeitarbeiterin wirft ARD-Reportern Verfälschung vor
Nachtrag vom 22.02.2013: Medienmagazin pro: Kommentar: Der „Amazon-Skandal“ der ARD
Amazon-Reportage: “Da wurde doch fast alles falsch dargestellt”
Aber auch die andere Seite: Autoren der Amazon-Doku: “Wir bleiben bei unserer Darstellung”
Siehe auch: ARD vs. DHL
Hi Karsten,
wenn der ADR-Bericht die einzige vernehmbare Kritik an den Beschäftigungsbedingungen bei Amazon wäre, sollte man dem sicher nicht all Zuviel Wert bemessen.
Ich kenne den Bericht nur aus zweiter Hand (Radio) gebe Dir aber bezüglich der mangelnden Recherchentiefe recht.
Jedoch gibt es auch zahlreiche andere Quellen z.B.: http://de.wikipedia.org/wiki/Amazon.com#Arbeitsbedingungen, die bemüht sind ihre Aussagen besser zu belegen.
Ich kenne Amazon nur als Konsument und war als solcher eigentlich immer zufrieden mit der erbrachten Leistung. Jedoch bereitet mir die Marktpräsents diese Riesen immer mehr Unbehagen.
Ich glaube nicht, dass es für den Kunden langfristig von Vorteil ist wenn ein global Player den Onlineversandhandel weltweit beherrscht.
Ich werde mich jedenfalls in Zukunft bei Onlinebestellungen nach Alternativen umsehen.
@Andreas: Aber wenigstens stellt Amazon Leiharbeiter genau in dem Kontext ein, für den sie gedacht waren: Um Lastspitzen im Unternehmen abzufangen – um die Weihnachtszeit herum.
Andere Unternehmen haben da Lastspitzen, die dauern seit acht Jahren und länger. 😉